Lucas Gehrmann, 1999

Mit einer mehrteiligen und -medialen Installation leistet Margret Wibmer ihren Beitrag zur „Desorientierung des Blickes“ – oder besser, zu einer im Zuge der Bilderflut-, Raumausdehnungs- und Werteverfallbeobachtungen unserer Tage entstandenen These, die die Künstlerin als Ausstellungskuratorin derselben selbst thetisch zum Titel gab; wobei zunächst offen bleibt, ob sie diese zu untermauern oder zu widerlegen trachtet.

In allen drei Teilen ihrer Installation taucht – wenn auch nicht immer materiell – ein und dasselbe Material auf: Gummi. In den an der Wand (on the wall) befestigten Objekten der Künstlerin ist es das Material selbst – haptisch erfahrbar und in seinen Qualitäten der Dehnbarkeit und Strapazierfähigkeit visualisiert mittels Gewichten, Hängevorrichtungen oder Verspannungen, das zugleich aber auch artifiziell verfremdet ist durch monochrome Einfärbungen (Schwarz, Rot, Weiß), die keine Spuren der mechanisch angedeuteten Strapaziermöglichkeiten tragen. Assoziationen mit Anthropomorph-Körperhaftem, den Körper Schützendem oder auch Bedrohendem, eröffnen sich vor allem aufgrund der möglichen Deutung des Materials und seines Zuschnitts als „zweite Haut“, doch überwiegt letztlich das „abstrakte“ Moment das figurativ-gegenständliche, und, trotz der Dreidimensionalität der Objekte, das bildhaft-flächige das skulpturale.1

Ihrer Performance for no Audience II, einem auf fotografischen Arbeiten basierenden Lichtbox-Objekt, liegt als Motiv ein gelber Gummianzug mit nunmehr körperhaft-skulpturalem Charakter zugrunde, der, hier noch in Momentaufnahmen und damit jeweils einansichtig und statisch in die Bildfläche übertragen, in der mit einer jetzt aktiven „audience“ rechnenden VR-Oper Off The Wall – einer Gemeinschaftsarbeit mit dem Musiker Günther Zechberger – zu einer bewegbaren virtuellen Skulptur wird, genau genommen sogar zur „zweiten Haut“ eines realen Körpers: zur Vor-Produktion der interaktiven Oper agierte die Künstlerin selbst als seine Trägerin.2

Ganz knapp ließe sich zunächst also schließen: je vielschichtiger hier der Übertragungsprozess zwischen Material/Objekt und menschlichem Wahrnehmungsapparat, desto höher der Simulationsgrad von Wirklichkeit. Oder: je weiter das Objekt von der physisch-realen Wand, die es trägt und als räumliche Grenze fungiert, sich entfernt, desto stärker übernimmt der (virtuell gewordene) Bildgegenstand die Funktion des raumbildenden, physischen Körpers.

Dem ließe sich entgegenhalten, dass gerade der Raum in Off The Wall ein Nicht-Raum ist, nicht nur im Sinne eines elektronischen und somit ortlosen Feldes, sondern vor allem auch als eine die (digitalisierte) Protagonistin umgebende Black Box, die keinerlei Andeutung von Raumgrenzen zu erkennen gibt. Zudem bietet der für den musikalischen Part der Oper verantwortliche Günther Zechberger keine vorkomponierte („Bühnen-“) Musik, sondern eine Sammlung von Sound-Material, das für sich gesehen keine zeitliche Abfolge generiert, sondern erst durch die BenützerInnen aktiviert und in „Musik“ verwandelt werden kann – wodurch erst dann auch „Zeit“ sich konstituiert. So gesehen findet die Oper Off The Wall konzeptuell im Nicht-Raum und im Abseits von Real-Zeit statt, sodass von einer Simulation real erfahrbarer Wirklichkeit hier nicht eigentlich die Rede sein kann.

Es ändert sich aber diese Situation, vergleichbar fast mit der Änderung des Verhaltens von Teilchen in der Quantenphysik, wenn das Publikum den elektronischen Opernraum betritt und die „Handlung“ des Stücks beginnen läßt: Der Mime beginnt sich zu bewegen, Klänge formieren sich zeit-linear.

Die hier nun für das Installationspaket Margret Wibmers doch behauptete Steigerung körper- und damit raumsimulierender Elemente bei zunehmender Entmaterialisierung des Mediums ließe unter besonderer Beachtung des Ausstellungstitels einen weiteren Schluss zu: Der Blick orientiert sich, solange ihm ein Objekt der Begierde sich bietet, – oder weniger psychologisierend formuliert: ihm ein dekodierbares, also identifizierbares Zeichensystem wahrnehmbar wird, das innerhalb, aber womöglich auch außerhalb empirisch bekannter Kontexte (wie Realtime, Realspace) angesiedelt sein kann. Je realräumlicher oder vielleicht besser: vertrauter der Gegenstand und sein Ambiente, desto verschlüsselter darf er formuliert sein, um den Blick (gerade noch) auf sich ziehen zu können.

Dieser an sich banal erscheinenden wahrnehmungstheoretischen Feststellung scheint im Zusammenhang mit dieser höchst komplex konzipierten Installation eine doch tiefere Aussage zugrunde zu liegen: Bei der Frage nach der (Des-)Orientierung des Blicks geht es nicht um die Frage nach Realität oder Virtualität (von Raum) – der Blick vermag sich hier wie dort immer nur unter bestimmten Prämissen zu orientieren –, sondern viel eher um die (kommunizierbare) Relation zwischen Subjekten und Objekten. Subjekt sein heißt Weltmittelpunkt sein und in Kommunikation mit Objekten, die ihrerseits Subjekte und Weltmittelpunkte sind, den Horizont und damit den eigenen Standpunkt permanent zu relativieren (ohne dabei das Subjektverständnis aufgeben zu müssen). Wenn Margret Wibmer für die Aufnahmen der VR-Oper Off The Wall selbst in den Gummianzug geschlüpft ist, manifestiert sie sich, auch wenn sie nur ihre Hülle den Blicken bietet, als körperlicher (!) Mittelpunkt ihres (Nicht)Raums und ihrer Zeit(losigkeit), das heisst auch: als Subjekt – um zugleich als Objekt ihres Publikums zu fungieren, das ihrem virtuellen Körper per Mausbewegung unterschiedliche Positionen und Ansichten zu geben vermag.

Vielleicht steht hinter diesem offenbar selbstsicher wechselnden Rollenverständnis der Künstlerin eine Vision einer nicht negativ konnotierten Welt der Cyborgs, die, mit Donna Haraway gesprochen, eine Welt sein könnte „… about lived social and bodily realities in which people are not afraid of their joint kinship with animals and machines, not afraid of permanently partial identities and contradictory standpoints.“3

Vielleicht ist aber ihr Beitrag zur Desorientierung des Blickes auch ganz anders zu lesen und die hier angestellte Interpretation eben nur eine solche, eine aus dem subjektiven Blick-Punkt eines Beobachtenden resultierende Sicht-Möglichkeit von vielen.


NOTES

1. Siehe hierzu auch: Tereza Kotyk, so nahe (wieder nicht), in: Margret Wibmer, XYZ, S. 21–24.

2. Zu den beiden hier genannten Arbeiten vergleiche die Ausführungen von Reinhard Braun im einleitenden Beitrag S. XY, sowie zu „Of The Wall“ insbesondere den Text von Günther Zechberger, S. XY.

3. Donna Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London 1991, S. 150. Hier zitiert nach Katharina Gsöllpointner, Ursula Hentschläger, Paramour. Kunst im Kontext Neuer Technologien, Wien 1999, S. 52.