Ludwig Seyfarth, 2010

 

Margret Wibmers Irritationen zwischen Körpern, Dingen und Räumen

Eine grundlegende Untersuchung zur Verwendung und Bedeutung von Materialien in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Monika Wagners Buch „Das Material der Kunst“,1 empfängt die Leser gleich auf dem Einband mit einem ungewöhnlichen Kleidungsstück. Ein auf dem Boden kauerndes Modell trägt den “Vanitas: Flesh Dress for an Albino Anorectic”, den die kanadische Künstlerin Jana Sterbak 1987 aus Stücken von Ochsenfleisch zusammennähte.

Ungewöhnliche Stoffe kommen in den letzten Jahrzehnten in der Kunst immer häufiger zum Einsatz. Wagners Untersuchung umfasst so weit reichende Aspekte wie die Farbe als Material, die Nutzung von Alltagsfundstücken, Reliquienkult, feste und flüchtigen Materialien, Stein, Metall, Kunststoff, Fett, Filz, Blut, Feuer, Luft und Licht. Ein umfangreiches Kapitel widmet Wagner auch der Kleidung, bei der die Künstler allerdings weniger erfinderisch vorgehen. Kleider werden oft wie Erinnerungsstücke oder Reliquien inszeniert, unabhängig von einem Körper, der sie trägt. Gefundene Kleidungsstücke kommen künstlerisch weit häufiger zum Einsatz, als dass sie neu hergestellt werden und Experimente mit Materialien wie bei Sterbak stattfinden. Das tun eher Modemacher, die bisweilen Kreationen entwickeln, die man eher in einer Konzeptkunstausstellung als auf dem Laufsteg erwarten würde, und bei denen mitunter auch organische Prozesse stattfinden. So entwarf der belgische Modeschöpfer Martin Margiela Kleider, die von Mikroben zerfressen werden. Und der Erfindungsreichtum im Umgang mit neuen Materialien und Technologien nimmt immer mehr zu. Die chinesisch-kanadische Designerin Ying Gao lässt die Oberfläche ihrer Kleider durch pneumatische Kolben und Pumpen bewegen, so dass sich die Silhouette der Kleidung selbständig von der Kontur des Körpers löst. Sie erhält ein ähnliches, wenn auch etwas eleganteres Eigenleben wie bei den grotesken Auswüchsen und Verformungen der Oufits von Leigh Bowery, der bis zu seinem frühen Tod 1994 so ziemlich alles unterlaufen hatte, was in der Modewelt als guter Geschmack galt.

Kleidung kann zu einer membranhaften, zweiten Haut werden, aber auch zu einem sich vom Körper verselbständigenden Gegenstand, der fast architektonische Qualitäten annimmt. Dies gilt für manche Kreationen Hussein Chalayans, dessen Modeschauen an künstlerische Performances erinnern und narrativ auf aktuelle politische Ereignisse Bezug nehmen. Bei „Afterwords“ (2000) interagierten die Models mit Tischen und Stühlen, deren Bezüge spontan zu Kleidern umfunktioniert wurden. Unter dem Eindruck der aktuellen Kriegsereignisse im Kosovo wollte der gebürtige Zypriote Chalayan die Situation von Menschen evozieren, die ihren Besitz auf der Flucht mitzunehmen und zu verbergen suchen.

My work is about ideas“, äußerte er 2009 auf die Frage nach seiner Designphilosophie.2 Chalayan entwirft Kleidung nicht nur zum Tragen, sondern um Bewusstseinsprozesse in Gang zu setzen.

Dies gilt auch für Margret Wibmer, die sich dem Grenzbereich zwischen Kunst und Mode gleichsam von der anderen Seite annähert. In ihren Fotografien, Objekten, Installationen und Performances spielt von ihr selbst entworfene Kleidung eine zentrale Rolle. Diese wird jedoch nie einfach nur „getragen“, sondern ist ein Instrument zur Reflektion der Verhältnisse, die sich zwischen menschlichen Körpern, Gegenständen und dem Raum ergeben. Margret Wibmer experimentiert wie innovative Modedesigner mit Materialien und Technologien, um nicht zuletzt in Erfahrung zu bringen, was Medien mit uns machen. So sagt sie 2009 in der Beschreibung ihrer interaktiven Installation „reconstruction“:

„Ich finde es interessant, den Gebrauch von Technologien in Frage zu stellen und ein Bewusstsein für das Medium selbst herzustellen. Dies ist nur durch Irritation möglich, durch das Weglassen dessen, was wir für selbstverständlich halten.“

In seinem berühmten Buch „Understanding Media“, das einen Ausblick in das damals beginnende elektronische Zeitalter geben sollte, schrieb Marshall McLuhan bereits 1964, den meisten Menschen wären die „Auswirkungen der Technik“ gar nicht bewusst, und so würde sich „das Schwergewicht unserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos“ verlagern; nur nicht beim ernsthaften Künstler, denn dieser „ist der einzige Mensch, der der Technik ungestraft begegnen kann, weil er als Fachmann die Veränderungen in der Sinneswahrnehmung erkennt.”3 McLuhans Medientheorie, die viele kraftvolle visuelle Metaphern enthält, ist auch eine Kunsttheorie. Kunst ist bewusster Umgang mit Technik, mit Medien und ihren Effekten, wenn sie zur Kenntlichkeit bringt, was „Medien als Übersetzer“ vollziehen, wie eines der Kapitel von „Understanding Media“ heißt. Hier konstatiert McLuhan, dass die Menschen schon immer versuchten, Natur in Kunst zu übertragen und damit „angewandtes Wissen“ erzeugt hätten: „’Angewandt’ heißt von einer Art von stofflicher Form in eine andere übertragen oder überführt.“4

Insofern ist das, was Künstler im digitalen Zeitalter tun, nichts grundsätzlich Neues. Wenn McLuhan im Künstler einen Experten für das Bewusstmachen ansonsten unbemerkter Wahrnehmungsprozesse sieht, knüpft er nahtlos an manifestartige Aussagen an, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Hinblick auf die damalige künstlerische Avantgarde getroffen wurden. So schrieb der russische Schriftsteller und Literaturtheoretiker Viktor Sklovskij 1915 in einem programmatischen Text, der entweder mit „Kunst als Verfahren“ oder „Kunst als Kunstgriff“ übersetzt wird:

„Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Kompliziertheit der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozess ein Ziel in sich und muss verlängert werden. Die Kunst ist ein Mittel, das Werden eines Dings zu erleben, das schon Gewordene ist für die Kunst unwichtig.“5

Auch die Irritationen, die sich durch Margret Wibmers Werk ziehen, können als bewusste Verlängerung des Wahrnehmungsprozesses gesehen werden, wobei die gewohnte Körper- und Raumerfahrung außer Kraft gesetzt wird. Dabei ging die Künstlerin erst einmal von ihrem eigenen Körper aus. Als „Prototyp“ der Arbeiten, in denen Margret Wibmer ihn als „Material“ einsetzt, lässt sich „Performance for no audience“ (1998) sehen, eine Fotoserie, in der sie einen gelben Gummianzug trägt. Der Körper wird zur Skulptur und der Anzug zu einer zweiten Haut, zu einer medialen Oberfläche, zum Interface. Wie Reinhard Braun 2000 analysierte, drehe sich Margret Wibmers Interesse um „Schnittstellen“, „um Schnittstellen zwischen Körpern, ihren Oberflächen und deren Verschränkungen mit Räumen, mit Blicken und Klang, und nicht zuletzt mit kulturellen Zeichensystemen.“6

Das deutsche Wort „Schnittstelle“ enthält anders als „Interface“ die Assoziation an den „Schnitt“ mit der Schere, der in Margret Wibmers Werk nicht nur etymologisch besteht. Die entscheidende „Schnittstelle“ zwischen menschlichem Körper und Umwelt ist die Kleidung. Der Zuschnitt der Kleidung, das Schneidern, und das Collagieren treten in Wibmers Werk als – in doppeltem Wortsinn – „analoge“ Verfahren nebeneinander.

Wibmers Interesse am Menschen konzentriert sich auf seine „Schnittstellen“ mit der Umwelt, auf Kleidung und Mode, auf Bewegung und situatives Verhalten. Es gilt nicht dem Porträt. Gesichter tauchen in ihrem Werk fast nie auf, auch ihr eigenes nicht.

Einst brachten sich Künstler/innen selbst ins Spiel, indem sie Selbstporträts malten oder ihr eigenes Konterfei am Rande eines religiösen oder Historienbildes verewigten. Dass sie sich körperlich einbringen, ist erst seit den 1960er Jahren, mit der Aktions- und Performancekunst, umfassender der Fall. Bruce Nauman beschrieb sein Vorgehen rückblickend: „I was using my body as a piece of material and manipulating it.“ 7 Dieser Haltung folgt Margret Wibmer, und sie tritt wie Nauman niemals selbst vor Publikum auf. Sie „porträtiert“ sich über digitale Scan- und Mappingverfahren.

Im Zeitalter der digitalen Datenverarbeitung wird das Porträt anachronistisch. Niemand mehr wird nach dem bloßen Augenschein identifiziert. Und die physische Anwesenheit ist nur noch eine Möglichkeit der „Präsenz“.

Während die Künstlerin selbst nur „virtuell“ anwesend ist, kommen die Betrachter/innen aktiv ins Spiel. Für die Vorbereitung von „Off the wall“ (1998-2000) stellte sich die Künstlerin im Gummianzug auf eine rotierende Platte. Eine an einer Stange befestigte Videokamera filmte sie zuerst vertikal von oben, bis eine vollständige Drehung von 360 Grad erfolgt war. Dann bewegt sich die Kamera um zehn Grad weiter nach unten, vollzog die gleiche Prodezur noch einmal und dementsprechend weiter. Während dieses vollständig kontrollierten und mechanischen Vorganges musste die Künstlerin die ganze Zeit stillstehen, bis sie vollständig eingescannt war. Danach wurden diese Aufnahmen zu einem Quicktime- Objekt verarbeitet, mit dem die Besucher der Installation interagieren konnten, was Margret Wibmer so beschreibt: „Der Ausstellungsbesucher nimmt gleichzeitig die Rolle des Statisten, des Produzenten, des Bühnenbildners, des Dirigenten und des Choreographen ein.“8

Wibmer bezeichnet „Off the wall“ als eine „Virtual Reality Opera“, die in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Günther Zechberger entstand. Zechberger entwickelte ein Soundscape, das die Besucher der Installation im Museum ‚De Beyerd’ in Breda ebenso beeinflussen konnten wie die Bewegungen des überlebensgroßen Quicktime-Objekts der Figur im Gummianzug.

Mehrere Personen können gleichzeitig Einfluss nehmen und so entsteht eine doppelte Irritation: einerseits eine Verunsicherung darüber, inwieweit man wirklich derjenige ist, der bestimmte Veränderungen auslöst, oder ob es durch das System selbst oder andere Besucher geschieht; andererseits entsteht eine Irritation des gewohnten perspektivischen Raumgefühls, weil horizontale und vertikale Orientierungsachsen außer Kraft gesetzt sind.

Ohne dass ein bewusster Bezug vorhanden ist, lässt sich Wibmers Vorgehen als digitale Weiterentwicklung von Wahrnehmungssituationen beschreiben, wie sie Dan Graham oder Bruce Nauman um 1970 entworfen hatten. Graham unterteilte Räume mit einseitig spiegelndem Glas, um die Besucher in Situationen zu versetzen, bei denen eine ständige Irritation des Sehens bzw. Gesehen-Werdens bestand . Damit wies er auch frühzeitig mit künstlerischen Mitteln auf die zunehmende Überwachungsproblematik in öffentlichen Räumen hin.9

Nauman setzte die Echtzeitaufzeichnung per Video ein, um Besucher mit ihrem eigenen Bild zu konfrontieren, das zeitlich verzögert und nicht unbedingt dort, wo man es erwartet, schwarzweiß auf einem der räumlich verteilt angebrachten Monitore erscheint. So sieht man sich statt von vorn von hinten, was an Magrittes berühmtes Bild „La Reproduction interdite“ von 1937 erinnert. Die Irritation eines „falschen“ Spiegels vervielfältigt sich gleichsam in den räumlichen und zeitlichen Verschiebungen, die bei Graham und Nauman auf der klassischen Videotechnik beruhen, bei Margret Wibmer auf den „Störungen“ der Interaktionen mit digitalen Objekten. Subtile Manipulationen auf der Zeitachse wirken aufs Raumgefühl zurück.

Die Interaktion erfolgt bei Wibmer direkt verbal, mittels Blicken oder mimische Kommunikation, sondern durch eine Verschiebung bzw. den Entzug gewohnter Kommunikationswege. Dies gilt vor allem für „The holding“ (2006), eine performative Installation, in der bis zu acht Besucher gebeten werden, von der Künstlerin hergestellte Kleidungsstücke zu tragen und in diesem Outfit, maskiert und uniformiert, in dem Raum der Installation umherzugehen. Ingeborg Erhart beschrieb ihre Erfahrung im Kunstpavillon Innsbruck 2006 so:

„Ich schlüpfe in einen dunklen, bodenlangen Mantel, der mit einem Gürtel in der Taille befestigt wird. Noch nie habe ich einen Kimono getragen, aber dieser Gürtel erinnert mich an einen Obi. Gleichzeitig könnte er aber auch ein Patronengurt oder ein Waffenhalfter sein. Die Ärmel raffe ich mithilfe eines Stoffbandes, das mit Klettverschlüssen fest gemacht wird – ‚wie beim Pulsmessen’, denke ich. Anschließend setze ich eine Kopfbedeckung auf, die auf verschiedene Arten getragen werden kann, und entscheide mich, sie wie ein Kopftuch hinten zu verknoten. Eine Sonnenbrille vervollständigt mein Outfit. Ich bin anonym.“10

Von außen betrachtet, könnte es sich um eine Modenschau oder ein esoterisches Ritual handeln, um eine unheimliche Versammlung von Anhängern des Ku-Klux-Klan oder eine ungewöhnliche Karnevalsmaskierung. Der wegen seiner Dunkelheit schwer wirkende, aber leichte und flexibel formbare Stoff ist ein „smart material“, das sich so verhält, als ob dünne Metallfäden durch ihn geführt sind. So kann er sich dem Körper flexibel anpassen, aber auch ganz eigenständige Formungen bilden.

Die Kopfbedeckung erinnert an ein Kopftuch, aber auch an eine Mönchsmütze. Und könnte es sich bei den Trägern der Kleidung nicht auch um Avatare aus einem Virtual Space handeln, die in die „reale“ Welt versetzt wurden und nun eine körperliche Einheit mit den Personen bilden, deren digitale Vertreter sie sonst sind? Über Lautsprecher ist eine weibliche Stimme zu hören mit Sätzen wie „Entspannen Sie Ihre Hüfte und beobachten Sie Ihre Mitarbeiter“ oder „Schützen Sie Ihren Körper in praller Sonne.“ Es könnte sich um therapeutische Ratschläge, um Botschaften an die Konsumenten in einem Kaufhaus oder um ärztliche oder behördliche Anweisungen handeln, aber um die Aussagen einzuordnen, fehlt ein eindeutiger Kontext. Die Situation als Ganzes erzeugt eine diffuse Atmosphäre von Kontrolle und Überwachung. Man weiß nicht genau, was geschieht, es gibt keinen Plot, nach dem man sich sinnvoll und zielgerichtet verhalten kann. Es ist eine Situation der erschwerten bzw. Nicht-Kommunikation. Auch das Outfit hält die Personen davon ab, miteinander in Kontakt zu treten. Mit ihnen geschieht, was die Künstlerin mit sich selbst im Gummianzug vollzog: Sie werden gleichsam zu Skulpturen, zu Objekten.

In der Fotoserie „The girl and her object“ findet schließlich eine – auf verbale und gestische Kommunikation völlig verzichtende – rein „skulpturale“ Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und von ihm getragenen Gegenständen statt. Hierbei kann es sich um Haushaltsgeräte wie Staubsauger oder eine Kaffeekanne handeln, aber auch um rätselhafte technoide Objekte ohne erkennbare Bestimmung. Der stets nur fragmentarisch sichtbare Körper wird durch das Licht plastisch modelliert.

Die fast klassischen Posen werden konterkariert durch das absurd und rätselhaft wirkende Halten der Objekte. Man könnte an die Präsentation von Produkten auf Werbefotos denken, aber die Objekte erscheinen disfunktional und nutzlos, mitunter wie mit dem Körper verwachsene Prothesen. Körper und Objekt bilden eine gemeinsame Silhouette, die sich jedoch nur aus genau dieser Kameraperspektive ergibt.

Das absurde „Tragen“ von Gegenständen legt einen Vergleich mit den „Paßstücken“ nahe, die Franz West in den 1970er Jahren in Performances vorzuführen begann. Es handelt sich um weiße Objekte aus Papiermaché, Gips, Polyester und Verbandmaterial, gewickelt um Drahtgestelle. Auf zahlreichen Fotos sieht man die „Träger“ solcher Paßstücke in verschiedenen Körperhaltungen, ruhig stehend, leicht gebückt oder voranschreitend. Die Paßstücke befinden sich in Bauchhöhe, an der Schulter, am Ohr oder auf dem Kopf. Ihre Form nähert sich manchmal der Gestalt eines bestimmten Gegenstandes an, etwa eines Haushaltsgeräts oder eines Musikinstruments. Oder es sieht fast so aus, als würde die Form sich bewegen. Sie erinnert dann an einen Schwan oder ein anderes Tier, das von der betreffenden Person festgehalten wird.

Eine Abwandlung der Paßstück-Idee entwickelte ein anderer Österreicher, Erwin Wurm, ebenfalls Österreicher. Er fordert seit 1997 unterschiedliche Personen dazu auf, ausgehend von Zeichnungen, die als Gebrauchsanweisungen dienen, „One-Minute-Sculptures“ aufzuführen, die Wurm auf Video festhält. Die Personen balancieren fünf lange Stäbchen zwischen ihren Fingerspitzen und der Wand, stehen da mit je einer Spargelstange in beiden Nasenlöchern oder jonglieren, die Beine nach oben gestreckt, je eine Teetasse auf den Füßen. Der Kunstkritiker Jörg Heiser kommentiert das so: „Die Idee Johann Joachim Winckelmanns, jenes großen Kunsthistorikers des 18. Jahrhunderts, dass Skulpturen selbst noch im Fragment den Traum von Ewigkeit in sich tragen, wird zum eingefrorenen Schnappschuss-Slapstick.“1

Das Slapstick-Element ist bei Wibmer nicht so offensichtlich wie bei West oder Wurm, aber die ungewöhnlichen Körper-Objekt-Kombinationen speisen sich aus ähnlichen Quellen. Einerseits lassen sie sich als spielerische Abwandlung der Präsentation von Kleidung, der Inszenierung von Mode lesen, andererseits als Reminiszenz an die absurden Kombinatoriken des Surrealismus.

Die Begegnung von Surrealismus und Mode manifestiert sich historisch vor allem in den originellen Kleiderkreationen Elsa Schiaparellis, die eng mit den Pariser Surrealisten verkehrte. Jean Cocteau und Salvador Dali entwarfen Stoffe und Design für die Modeschöpferin. Dalis Gemälde „Anthropomorpher Schrank mit Schubladen“ (1936, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf) regte Schiaparelli zu ihrem „Schubladenkleid“ an. Im Oberteil des aus dunklem Stoff gefertigten, eng anliegenden Kleides saßen viele Taschen mit Ringen, die wie Schubladen aussahen. Schiaparelli ging jedoch nicht so weit, sie als Ausstülpungen aus der Silhouette herausragen zu lassen und Effekte zu erzielen, wie sie sich bei der Kleidung in „the holding“ ergeben.

In der gleichzeitigen surrealistischen Objektkunst finden wir –quasi umgekehrt – die Kombination von Alltagsgegenständen mit natürlichen Materialien, die für Kleidung verwendet werden, so bei „Frühstück im Pelz“, der berühmten Pelztasse von Meret Oppenheim. Die surrealistischen Metamorphosen der Dingwelt stehen auch für die Abkehr vom Modell des menschlichen Körpers in der plastischen Kunst. Der „Verdinglichung“ des Körpers, wie bei Dalis anthropomorphen Schrank, steht die Psychologisierung der Ding- und Warenwelt gegenüber.

In ihren Objekten und Skulpturen knüpft Margret Wibmer an surrealistische Materialkombinationen an. „l.e.a.“ erinnert direkt an Oppenheims Pelztasse, wobei das Fell hier einen Diaprojektor überzieht. „5 p.m.“ ist eine an der Wand befestigte Haltevorrichtung, ein merkwürdig umständliches, ausziehbares Präsentationsgerät für Bilder. So werden auch die Objekte, wie das „girl“ auf den Fotos, zu Trägern, wobei Sinn und Ziel der Vorrichtung ähnlich offen bleiben.

Der Surrealismus reflektierte nicht zuletzt eine Gesellschaft, in der nicht nur handwerkliche und industrielle Produkte, sondern auch menschliche Körper zu Waren werden. Dass Körper wie Dinge und Dinge wie Körper erscheinen, ist in der Welt surrealistischer Metamorphosen häufig der Fall und auch ein zentraler Wesenszug der Kunst Margret Wibmers.

Ist die Kleidung, die man trägt, nicht auch ein Gegenstand? Und wird der Körper durch die Kleidung nicht auch zum Gegenstand, wie zur Schneider- oder Schaufensterpuppe, an der man die Kleider oder Anzüge probeweise anpasst oder sie zur Schau stellt?

Schneiderpuppen und Mannequins gehörten zum Standardrepertoire der surrealistischen Ikonografie. Schere, Nadel und Faden tauchen beispielsweise auf vielen Bildern Max Ernsts auf. Die schon erwähnte Analogie zwischen dem Zuschneiden und Nähen von Kleidung und dem Kombinieren ausgeschnittener Motive zu einer Bildcollage ist ein weiteres „Erbe“ des Surrealismus, das Margret Wibmer weiterentwickelt, auch in ihrer Arbeit „Reconstruction“.

Während sie in ihren Installationen und Performances die Überlagerung physisch erfahrbarer und virtueller Körper beziehungsweise Räume erforscht, lotet sie in den Fotografien die flächige Darstellbarkeit räumlicher Bezüge aus. Die Übersetzung von Raum und Fläche ist in dem während eines China-Aufenthaltes 2009 entwickelten, auf dort entstandenen Fotografien basierenden Projekt „Reconstruction“ konsequent weiter getrieben. Über die Idee zu „Reconstruction“ schreibt sie selbst:

“Obwohl ich viele Jahre in New York gelebt habe und mir große Metropolen nicht fremd sind, war ich überaus beeindruckt von der Anzahl und Größe der Gebäude die in Städten wie Peking und Shanghai zu Dutzenden aus dem Boden wachsen. Mit großer Verwunderung kam in mir immer wieder die Frage auf, wer wohl all diese neu entstandenen Räume füllen wird. Obwohl ich mich inmitten dieser riesigen Gebäude etwas verloren vorkam, fühlte ich mich gleichzeitig überdimensioniert inmitten der mich umringenden Menschen, deren Anatomie viel feiner und fragiler ist als die meine. Zurück in Amsterdam wurde mir sofort bewusst, dass diese Reise nach China meine Wahrnehmung, spezifisch bezogen auf die physische Präsenz der Menschen und seine Positionierung im urbanen Raum, ganz wesentlich beeinflusst hatte.“

Der Körper wird nicht mehr in einer räumlichen Situation und in Relation zu greifbaren Objekten vorgeführt, sondern ist vollständig in ein Flächenmuster eingewoben. Er befindet sich auch nicht mehr in einer begrenzten, geschlossenen Umgebung, im Rahmen einer „Versuchsanordnung“ (ein Begriff, den auch Bruce Nauman verwendet), sondern in einer von stereotypen, sich gleichförmig wiederholenden architektonischen Mustern geprägten urbanen Szenerie. Die Personen befinden sich aber nicht „real“ in der Umgebung, sondern die Architektur ist gleichsam ein flächiges Screen, auf dem die auf ihre Silhouette reduzierten Menschen wie Projektionen erscheinen. Alles nur noch Oberfläche, sowohl die Körper als auch die Gebäude.

Während „The girl and the object“ exemplarisch die Verdinglichung der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt vorführt, thematisiert „reconstruction“ die spezifische Entfremdung in einer immer mehr von digitaler Kommunikation geprägten Gesellschaft. Das Verschwinden von körperlicher Präsenz erscheint als Unmöglichkeit, überhaupt eine physische Beziehung herzustellen.

Reconstruction“ wird als interaktive Installation präsentiert. Es besteht die Möglichkeit, Bildelemente, Sound etc. umzustellen. Trotzdem erschließt sich der Raum nicht, sondern bleibt ein flächiger Screen, eine disfunktionale, bewegte Collage.11

Erstaunlich ist, dass es Margret Wibmer gelingt, den „Widerspruch“ zwischen Mensch und digitalisierter Lebenswelt mit dem Mittel der Collage zum Ausdruck zu bringen. Denn jedes am Computer bearbeitete oder hergestellte Bild ist eine Collage, nur dass man anders als bei analogen Verfahren keine Schnitte sieht. Das Verfahren der Collage wird ebenso „phantomatisch“ wie die soziale Realität.3 Der Philosoph Günther Anders verwendete den Begriff des Phantoms, um in den 1950er Jahren die damals noch neue Erfahrung des Eindringens von Radio und Fernsehen in die Lebenswelt zu beschreiben.4

Die traditionelle Verwendung des Collagebegriffs betrifft die Kombination von Disparatem in einem bildnerischen oder räumlichen Ensemble, während man bei collagierten zeitlichen Abläufen, vor allem im Film, von „Montage“ spricht. Die filmische Animation der digitalen Collagen in „Reconstruction“ erzeugt jedoch keinen zeitlichen Ablauf, sondern bleibt wie ein Loop in den Rahmenbedingungen der Bildcollage gefangen.

Der wie ein Ensemble ineinander verschobener Flächen wirkende Umraum erscheint wie ein zweites Kleid der Figuren. Während Kleider zu raumgreifenden Gegenständen werden, wirkt der Raum wie eine Membran, wie eine zweite Haut. Die Kleidung als Bindeglied, als Schnitt-Stelle, als Austausch zwischen Mensch und Umwelt wird letztlich auch zur Metapher für den wahrnehmenden und kognitiven Austausch zwischen Mensch und Welt, und auf den Margret Wibmers Kunst vor allem abzielt.


NOTES
1 Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, Munich 2001.
2 http://designmuseum.org/design/hussein-chalayan
3 Marshall McLuhan, Understanding Media, ed. Routledge Classics, London/New-York. p 19
4 Ibid., p. 69.
5 Viktor Sklovskij, Theorie der Prosa, ed. by Gisela Drohla, Frankfurt a. M. 1984, p. 13.
6 Reinhard Braun, Zum Verhältnis von Blick, Bild-Schirmen und Kunst, Die Desorientierung des Blickes, Breda 2000, p. 15
7 Quote from Tony Godfrey, Conceptual Art, London 1998, p. 128.
8 Matthew Hawn, Interacting through art, Sony Style Magazine, Spring 2000.
9 Cf. Graham’s own texts on the subject of surveillance, for example in Video in Beziehung zur Architektur, in: Dan Graham, Ausgewählte Schriften, ed. by Ulrich Wilmes, Stuttgart 1994, p. 57-89; Rainer Metzger, Kunst in der Postmoderne – Dan Graham, Cologne 1996, in particular p. 148 ff.
10 Ingeborg Erhart, the holding, entering a strange field, Innsbruck 2006, p 4.
11  Jörg Heiser, Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht, Berlin 2007, S. 74.
12  Margret Wibmer beschreibt dies selbst detailliert: ‘reconstruction’ ist eine performative Installation. Der Ausstellungsbesucher kann sowohl Bild- als auch Soundelemente dieser großformatigen Projektion durch Herumgehen im Raum in Bewegung versetzen und deren Anordnung beeinflussen. Die Möglichkeit der Neuanordnung einzelner Bild- und Soundelement entspricht der copy/paste Handlung diverser Computerprogramme. Diese wird vor allem auch bei der Konstruktion digitaler Räume eingesetzt, wobei die wichtigste Funktion bei digital-räumlichen Konstruktionen das ‚zoom’ ist. Mit der Zoomtaste kann der digitale Raum erforscht und definiert werden. Man kann sich an verschiedenen Standorten sowohl im Raum selbst als auch in Bezug zu den Objekten im Raum positionieren. Gerade weil wir mit diesen Mitteln der Navigation heute durchaus vertraut sind, eröffnet sich mir die Möglichkeit, diese Art der Raumerschließung zu befragen. Durch Weglassen der Zoomfunktion verliert der Betrachter den Überblick und die räumliche Orientierung im Bild und bleibt in der Fläche gefangen. Das Bild erschließt sich Schicht für Schicht, es öffnet sich aber nicht, sondern bleibt in seinen Rahmenbedingungen gefangen.“
13 Dazu: Ludwig Seyfarth, Phantomcollage. Wenn man Schnitte nicht mehr sieht – zur Aktualität des Collagebegriffs, in: Kunst & Kultur 2, 1995, S. 17–19.
14 Günther Anders, Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, in: idem., Die Antiquiertheit des Menschen, volume 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956), Munich 1985, p. 99 ff.