Ingeborg Erhart, 2006
„Mit den Wahrnehmungen, die nicht zum Nachdenken anregen, meine ich jene, die nicht zugleich entgegengesetzte Eindrücke hervorrufen; [c] die dies machen, diese meine ich mit den zum Denken auffordernden, da dann die Wahrnehmung Gegensätzliches enthält, unabhängig davon, ob sie aus der Ferne oder der Nähe erfolgt. (…)“*
Barfuß trete ich durch eine Schleuse in den hinteren Bereich des Kunstpavillons. Ich schlüpfe in einen dunklen, bodenlangen Mantel, der mit einem Gürtel in der Taille befestigt wird. Noch nie habe ich einen Kimono getragen, aber dieser Gürtel erinnert mich an einen Obi. Gleichzeitig könnte er aber auch ein Patronengurt oder ein Waffenhalfter sein. Die Ärmel raffe ich mithilfe eines Stoffbandes, das mit Klettverschlüssen fest gemacht wird – „wie beim Pulsmessen“, denke ich. Anschließend setze ich eine Kopfbedeckung auf, die auf verschiedene Arten getragen werden kann, und entscheide mich, sie wie ein Kopftuch hinten zu verknoten. Eine Sonnenbrille vervollständigt mein Outfit. Ich bin anonym.
Mit kleinen Schritten betrete ich den Raum, dessen Wände auf eigenartige Weise gleichmäßig ausgeleuchtet sind und der völlig – sowohl an Wänden, Decke als auch Boden – sandfarben ist. Ich spüre einen weichen, kurzfaserigen Teppich unter meinen Füßen und höre seltsame Geräusche von Ventilatoren, deren Herkunft ich nicht genau orten kann. Desorientierung.
Ich gehe weiter und nehme nun ein entferntes Stimmengewirr, schnelle Schritte und ein Zischen wahr, das Zugtüren beim Öffnen und Schließen erzeugen – ein Bahnhof? In der Zwischenzeit sind weitere Personen in den Raum gekommen. Sie sind in gleicher Weise adjustiert wie ich. Wir kennen uns nicht. Trotzdem interagieren wir wortlos in der Wahl unserer Wege durch den Raum. „Entspannen Sie Ihre Augen im richtigen Moment. Genießen Sie die angenehme Temperatur und treffen Sie alle nötigen Sicherheitsmaßnahmen.“, weist uns eine warme und doch autoritäre Stimme an. Sie kommt mir bekannt vor. Ihren Anweisungen kann ich nicht Folge leisten. Nun sind acht Personen im Raum. Der Geräuschpegel steigt. Immer mehr Sounds werden ausgelöst. Ich glaube Turbinen, das kreischende Geräusch der Metallverarbeitung, aber auch laue Ambient-Noises wahrzunehmen, die ich aus diversen Meditations- und Entspannungszusammenhängen kenne. Dazwischen geben eine Männer- und eine Frauenstimme immer wieder widersprüchliche Handlungsanweisungen und Warnhinweise. Irgendwie fühle ich mich nach einer bestimmten Zeit, in der ich versucht habe herauszufinden, nach welchem Prinzip die Geräusch- und Textfragmente ausgelöst werden und wie ich das mit meinen Bewegungen im Raum beeinflussen kann, ganz leer. Wenn ich und die anderen sieben Personen den Raum verlassen haben, bleibt nichts zurück. Ein Durchgangsort. Schön und befremdlich zugleich. Einziger Referenzpunkt: ich selbst.
Margret Wibmer präsentiert mit ihrem Label IMOTO in Museen und Kunsträumen temporäre und mobile Environments, oder, wie bei der Ausstellung „Entering A Strange Field“ im Kunstpavillon, mit „the holding“ eine interaktive Installation. Für jede Intervention wird die Kommunikationsstruktur jeweils auf den Ort abgestimmt und neu entwickelt. Die interaktiven Installationen stehen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang zu den Objekten und Fotoarbeiten der Künstlerin. Die Werke oszillieren zwischen Körperbezogenheit und Robotik, Fetischismus und Biotechnologie. Sie sind antiquiert und futuristisch zugleich und entziehen sich einer eindeutigen Zuschreibung. Sie bleiben immer im Dazwischen und ermöglichen so ein breites Spektrum an Assoziationen.
Ähnlich wie bei „Cave“-Installationen, in denen virtuelle Realität in Echtzeit simuliert wird und deren Bezeichnung (CAVE) bewusst an das Höhlengleichnis in Platons „Politeia“ erinnert1, geht es der Künstlerin in „the holding“ um das Verhältnis von Wahrnehmung und Erkenntnis, Realität und Illusion. Die reine Vorgabe einer Situation substituiert Margret Wibmer durch die subjektive Empfindung und Gedankenwelt jeder einzelnen Person, die den Raum betritt. Die Besucher sind Teil des Kunstwerks und können mehr oder weniger anonym für einen Moment oder auch länger eigeninitiativ agieren. Gleichzeitig wird jede/r optisch durch „Big eye“, wie sich die von STEIM2 entwickelte Software bezeichnender Weise nennt, abgetastet3 und erfasst (die Informationen erhält „Big eye“ hier von zwei Überwachungskameras). Die Akteure erfahren eine abstrakte Metapher für unser zivilisiertes Leben zwischen freier Entfaltung, Selbstbestimmung und gesellschaftsbedingten Verpflichtungen und Reglements, für innen und außen. Ein Warteraum. Ein Aufwachzimmer.
This essay was published in the exhibition catalogue ‘Entering A Strange Field’ ____fabrics interseason, Wally Salner and Johannes Schweiger / IMOTO, Margret Wibmer in cooperation with Robert van Heumen in the context of the eponymous exhibition at Kunstpavillon of the Tiroler Künstlerschaft in Innsbruck Austria, 18 May to 15 July 2006.
NOTES
* Platon, Der Staat, Siebentes Buch [523b-c], S. 339, Stuttgart, 2000
1 http://de.wikipedia.org/wiki/Cave_Automatic_Virtual_Environment
2 www.steim.org
3 Den Begriff der „optischen Abtastung“ führt Paul Virilio in „Die Sehmaschine“ im Kapitel „Die versteckte Kamera“ in Zusammenhang mit militärischer Ortserkundung im 2. Weltkrieg ein, die „in ihrer anthropomorphen Kameraführung bereits die optische Abtastung bei der Video-Überwachung vorwegnahm“. Berlin 1989, S. 117